Die „Elektrische“ habe ich als kleiner „Butscher“ noch selbst kennenlernen dürfen. Wenn es mal in die Innenstadt ging, lag oft auch eine Fahrt mit der Straßenbahn auf dem Weg. Obwohl die Tram in der Mitte der 1970er Jahre schon in den sprichwörtlich letzten Zügen lag, war sie in der Innenstadt immer noch präsent. Fuhren wir mit der S-Bahn in die Stadt, sah ich bereits am Berliner Tor die ersten Straßenbahnen, die auf eigenem Bahnkörper entlang der Bürgerweide an den Blechkolonnen vorbeifuhren. Schon damals war mir aufgefallen, dass überall in der Stadt verteilt Gleise lagen, auf denen an vielen Stellen nichts mehr fuhr.
Obwohl noch sehr jung, konnte ich damals nicht nachvollziehen, warum man ein so umweltfreundliches Verkehrsmittel einstellt. Hamburgs Stadtväter hatten bereits in den 1950er Jahren die Weichen in Richtung autogerechte Stadt gestellt. Dem stand die Straßenbahn im Wege. Sie sollte durch U- und S-Bahnen ersetzt werden, die in der „zweiten Ebene“, also unter oder über der Erde verkehrten und damit den Individualverkehr nicht störten. Die Fahrgäste sollten auf die Schnellbahnen umsteigen. Dem Bus war die Funktion des Feinverteilers von den Schnellbahnknoten zugedacht.
Nun, es kam anders. Dem Schnellbahnbau ging in den 1970er Jahren die finanzielle Puste aus. Das inzwischen geschrumpfte Straßenbahn-Netz war angeblich nicht mehr wirtschaftlich und so übernahm der Bus weitestgehend die Rolle der letzten Straßenbahnlinien. In dieser Zeit fing ich an, mich für öffentliche Verkehrsmittel zu interessieren.
Hamburg mit dem HVV entdecken
Schon sehr früh habe ich oft und gerne meine Heimatstadt erkundet. Das ging, damals wie heute, besonders gut mit einer Tageskarte oder in den Sommerferien mit der HVV-Ferienfahrkarte. Beide Karten galten ab 9 Uhr für beliebig viele Fahrten und damit konnte man prima auf Entdeckungstour gehen und die Stadt erfahren.
S-Bahnen waren zu der Zeit meist dunkelblau. Die ältesten Züge fuhren zu der Zeit auf der S1 und hatten noch Glühlampenbeleuchtung. Moderner waren die Züge auf den Linien S2 und S10. Ebenfalls S-Bahnlinien, wenn auch nicht elektrisch, waren die Strecken der S3, S4 und S5. Hier fuhren Nahverkehrszüge, die meist mit silbernen Waggons behängt waren. Ebenfalls in Silber präsentierten sich die U-Bahnen. Bis auf Front und Türen in Orange, war der Rest des Wagens in Edelstahl gehalten. Optisch lehnten sich diesem Konzept auch die damals neuen Züge der AKN an. Sie bildeten einen echten Kontrast zu den Schienenbussen der ANB und EBO.
Auf meinen Touren versuchte ich möglichst viele Verkehrsmittel im HVV zu kombinieren. Neben den Schnellbahnen und Bussen lagen die HADAG-Fähren, die Alsterschiffe und besonders die Straßenbahn oft auf meinem Weg. Die Linie 2 (heute MetroBus 5) nutzte ich bevorzugt, weil entlang der Strecke mehrere Umsteigemöglichkeiten zur Schnellbahn lagen.
Die Fahrt in der Straßenbahn machte besonders viel Spaß, denn da war die grüne Trennscheibe zur Fahrerkabine, durch die man die Strecke vor sich beobachten konnte. Die schmalen Doppeltüren öffnete man als Fahrgast selbst per Drucktaster. Gemütlich wirkte die hölzerne Innenausstattung sowie die elegante Form der Wagen. Mit 2,20 Metern Breite waren die Bahnen schmaler als die Busse mit 2,50 Metern. Die Enden waren spitz geformt und liefen elegant aus. 1978 sollte die Hamburger Straßenbahn mit Einstellung der Linie 2 aus dem Straßenbild verschwinden. Da war die „Elektrische“ inzwischen 84 Jahre alt geworden und ich fast zwölf.
In den Medien wurde das bevorstehende Ende angekündigt. Das Hamburger Abendblatt begleitete in einer Sonderserie täglich die letzten 39 Tage der Straßenbahn. HVV und Hochbahn informierten ihre Fahrgäste über die Betriebsumstellung.
Letzter Betriebstag der Linie 2
Am Wochenende 30. September/1. Oktober 1978 war es dann soweit: Straßenbahn-Abschied! Am Sonnabend hatte der Einzelhandelsverband den Straßenbahnbetrieb der „Zwei“ zwischen 9 und 15 Uhr gemietet und alle Hamburger zur kostenlosen Abschiedsfahrt eingeladen. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Ich kaufte mir für 70 Pfennig einen Kinderfahrschein und fuhr in die Stadt. Am Rathausmarkt angekommen, standen schon zwei Hochbahner, die mich freundlich aufforderten gleich in den bereitstehenden beige-roten Triebwagen einzusteigen. Ich nahm Platz und schon setzte sich die Tram bimmelnd in Gang. Neben mir, nutzten viele Menschen diese Gelegenheit und fuhren am Sonnabend noch mal mit ihrer „Zwo“. Entsprechend voll waren die Bahnen und die Hochbahn setzte zusätzliche Busse als Verstärker ein.
Nach einigen Runden Rathausmarkt – Schnelsen, wollte ich auch das Straßenbahndepot in Lokstedt besuchen. Obwohl viele Bahnen unterwegs waren, gab es auf dem Betriebshof doch einiges zu entdecken. So z.B. den Fahrschulwagen Nr. 3999.
Am frühen Nachmittag trieb ich mich noch immer auf dem Areal des Betriebshofs Lokstedt rum. Ich hatte mir die abgestellten Triebwagen in der Halle angesehen, wollte mich dann aber auf den Weg nach Hause machen, denn der kostenlose Betrieb würde gegen 15.00 Uhr enden. Gerade stand eine Bahn in der Schleife vor der Halle, wo sich der Fahrer auf die Abfahrt vorbereitete. Ich stieg ein, löste brav meinen Kinderfahrschein und fuhr mit der Linie 2 zurück in die Innenstadt und dann weiter nach Hause. Als in der Nacht gegen 2.30 Uhr der letzte planmäßige Triebwagen auf den Betriebshof rollte, lag ich längst in der Falle.
Sonntag, 1. Oktober 1978 – Sonderbetrieb zum Abschied
In der Nacht zum Sonntag war der neue Winterfahrplan 1978/79 in Kraft getreten. Die Linie 2 hatte offiziell ihren Betrieb eingestellt und seit Betriebsbeginn fuhren nun die Busse der neuen Linie 102. Trotzdem konnten die Hamburger am Sonntag noch mal ausgiebig Straßenbahn fahren, denn die Hochbahn hatte einen kostenlosen Sonderbetrieb eingerichtet.
Die Innenstadt war rappelvoll und die Bahnen waren es auch. Wieder nutzte ich die Gelegenheit und pendelte auf der Strecke zwischen Rathausmarkt und Schnelsen hin und her. Überall entlang der Strecke surrten und klickten Kameras. Einige Leute waren sogar mit Kasettenrekordern unterwegs um die Fahrgeräusche der Bahnen aufzuzeichnen. Andere wiederum waren mit Werkzeug ausgestattet und schraubten alles ab, was nicht niet- und nagelfest war. Beliebt war auch, Geld auf die Schienen zu legen und es von den Bahnen platt fahren zu lassen. Manchmal blieben die Münzen an den Rädern kleben.
Auf dem Rathausmarkt herrschte Volksfeststimmung. Die HHA-Kapelle und Spielmannszüge sorgten für Musik. Das DRK lud zur Erbsensuppe ein. Auf der nördlichen Gleiskehre parkten drei Triebwagen, aus denen heraus Souvenirs verkauft wurden.Gegenüber am südlichen Ende stand ein Streudienst-Arbeitswagen aus den 1920er Jahren. In historisch grün-gelbem Farbkleid wurde er den Hamburgern als alte „Pferdebahn von 1880“ vorgestellt. Daneben parkte ein Prototyp des ersten Schubgelenkbusses und stellte den Bus der 1980er Jahre dar. Die Zukunft also.
Am Grindelberg hatte man ebenfalls ein kleines Straßenfest organisiert. In der Schleife waren zwei Triebwagen geparkt. Viel los war auch auf dem Gelände des Betriebshofs Lokstedt. Zum Nachmittag wurden die Bahnen so voll, dass ein Zustieg nur noch schwer möglich war. Am Rathausmarkt angekommen, gelang es mir nicht mehr bis zur Ausstiegstür zu kommen. Das Gedränge war zu groß und ich musste noch eine Runde mitfahren. Erst in Lokstedt konnte ich die Straßenbahn am Betriebshof verlassen. Auch hier waren die Straßen nun schwarz vor Menschen. Als die Triebwagen, einer nach dem anderen, in den Betriebshof einrückten, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Wieder legte ich brav meine 70 Pfennig für den Kinderfahrschein auf den Zahltisch. Diesmal jedoch beim Fahrer der neuen Buslinie 102, die nun der Ersatz für die Linie 2 war und mich zurück in die Innenstadt brachte.
Am Folgetag war der Straßenbahnabschied das Titelthema aller Hamburger Tageszeitungen. Sie berichteten, dass rund 200.000 Hamburger das Wochenende genutzt hatten, um sich von der Elektrischen zu verabschieden. Ich bin froh, die Hamburger Straßenbahn noch selbst erlebt zu haben und versuche mit meinen virtuellen Modellen die Erinnerung daran ein bisschen wach zu halten.